.hist2011 – Geschichte im digitalen Wandel

Podiumsdiskussion II: Geschichte und ihre digitale Medialisierung: Welche Medienkompetenz brauchen Historiker/innen?

Teilnehmer/innen: Frank Bösch (Universität Gießen), Anke te Heesen (Humboldt-Universität zu Berlin), Sebastian Ullrich (Verlag C.H. Beck)

Moderation: Rüdiger Hohls (Humboldt-Universität zu Berlin)

Rüdiger Hohls: Moderation

Thema 1: Intentionen, Auswirkungen und Perspektiven der digitalen Mediennutzung in Forschung und Lehre
Digitale Medien und netzgestützte Arbeitsformen sind mehr und mehr Teil des geschichtswissenschaftlichen Arbeitsalltags geworden, seit einiger Zeit vor allem auch durch das breite Repertoire an Web 2.0-Anwendungen. Zugleich werden neue Repräsentationsformen medialer „Kulturen“ und „Diskurse“, neue Partizipationsmöglichkeiten von Öffentlichkeit und Wissenschaft in der Geschichtsdarstellung und -rezeption im Internet etabliert.
Wo und wann beziehen Sie im Arbeitsalltag als Historiker/in Aspekte dieses Themas in Ihre Überlegungen, Konzeptionen und in die Realisation von Vorhaben ein? Haben Sie das Gefühl, sich den damit verbundenen Fragen stellen zu müssen, weil dies von Ihnen erwartet wird, oder ist die Auseinandersetzung mit dem medialen Wandel längst ein selbstverständlicher, inhärenter Teil Ihres beruflichen Wirkens geworden?

Thema 2: Der mediale Wandel des historischen Materials und seine forschungspraktischen Konsequenzen
In unseren Gesellschaften wächst seit spätesten Mitte der 1970er-Jahre der Fundus an digital born Dokumenten unaufhaltsam, seit 20 Jahren haben wir es mit einem lawinenartigen Zuwachs des digital zugänglichen Materials zu tun. Das Internet (Stichwörter Retrodigitalisierung, google books, Wikipedia, …) scheint mir hier die Rolle eines nachwachsenden provenienz­freien Archivs übernommen zu haben.
Welche forschungspraktischen Konsequenzen haben Sie aus dieser Entwicklung für Ihre Arbeit gezogen? Technische Dauerinnovationen prägen inzwischen die Überlieferung, die Zugänglichkeit und Vermittlung historischen Materials, welche Medienkompetenz benötigen Historiker/innen vor diesem Hintergrund nach Ihrer Einschätzung? Besteht die Medienkompetenz möglicherweise auch in einer erst noch zu entwickelnden hilfswissenschaftlichen Datenarchäologie?

Thema 3: Erinnern, Recherche, Analyse und Narration in analogen und digitalen Welten
Im Gegensatz zu den analogen „Maschinensälen“ der Bibliotheken und Archiven haben in der digitalen Welt von heute scheinbar Google und all die anderen internationalen Monsterunternehmen des Internets nicht nur das Speichern faktischer Wissensinhalte übernommen, sondern beobachten und analysieren auch fortlaufend unsere wissenschaftlichen Handlungen im Netz (recherchieren, schreiben etc.). Als Gegenleistung für die Berechnung, Organisation und Deutung unserer vermeintlichen Assoziationen werden wir mit wohlorganisierten Trefferlisten, mit „Freunden“ oder „Empfehlungen“ belohnt.
Google, Facebook etc. scheinen mir damit befasst zu sein, nicht nur unser soziales und assoziatives, sondern auch unser kulturelles und historisches Erinnern zu übernehmen. Insofern scheinen mir die Netzgiganten die Autorität von Experten, somit auch die Arbeit professioneller Historiker/innen sukzessive zu untergraben. Wie schätzen Sie die Entwicklung und Auswirkungen für unser Fach ein, bzw. welche Rolle schreiben Sie den Historiker/innen in der digitalen Welt zu? Welche Konsequenzen sehen Sie für die historische Themenfindung, für die historische Analyse und Narration?

Thema 4: Geschichtswissenschaftliche Kommunikations- und Transferprozesse
Geschichtskultur/Geschichtspolitik: Die Geschichtswissenschaften sind in vielfältiger Weise in die Geschichtskultur der Gesellschaft eingebunden. Gleichzeitig wächst das Webangebot mit historischem Inhalt rasant an, wobei geschichtswissenschaftliche Zwecke eher marginal bleiben. Wo sehen Sie die Geschichtswissenschaften heute, wenn es um den Wissens- und Erkenntnistransfer zwischen Wissenschaft und Gesellschaft geht? Welche Rolle schreiben Sie internetbasierte Vermittlungsformen zu? Sollten die Geisteswissenschaften zusammen mit den Verlagen neue Publikations- und Kommunikationswege einschlagen? Und wie interaktiv und partizipativ sollten diese ausgestaltet sein?
Vermittlung/Lehre: Die klassischen Formate der universitären Präsenzlehre (Vorlesungen, Seminare, Übungen etc.) werden zunehmend über Lehr-/Lernplattformen unterstützt. Insbesondere haben sich dadurch die Kommunikationsstrukturen zwischen Studierenden sowie Studierenden und Lehrenden verändert. Welche Erfahrungen haben Sie selbst mit virtuellen Instrumenten der Lehrunterstützung oder -organisation gesammelt? Welche Entwicklungen, Veränderungen und Chancen erwarten Sie auf diesem Feld? Wird die Standardisierung der Bachelor-Ausbildung soweit voranschreiten, dass Fachverlage möglicherweise irgendwann vorgefertigte Kursmodule zur Verfügung stellen werden?

Zu den Personen

Frank Bösch, geb. 1969, Studium der Geschichte, Politik und Germanistik in Hamburg und Göttingen, 1998-2002 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte der Universität Göttingen, 2002-2007 Juniorprofessor am Historischen Institut der Universität Bochum, 2005 Stipendiat am DHI London, 2007-2011 Professor für Fachjournalistik Geschichte am Historischen Seminar der Universität Gießen und Sprecher des DFG-Graduiertenkollegs „Transnationale Medienereignisse. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart“. Seit 1.10.2011 Direktor des Zentrums für Zeithistorische Forschung in Potsdam und Professor für deutsche und europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts an der Universität Potsdam. Buchveröffentlichungen u.a.: Mediengeschichte. Vom asiatischen Buchdruck zum Fernsehen, Frankfurt/M. 2011; Öffentliche Geheimnisse. Skandale, Politik und Medien in Deutschland und Großbritannien, 1880-1914, München 2009; Public History. Darstellungen des Nationalsozialismus jenseits der Geschichtswissenschaft, Frankfurt u.a. 2009 (Hg. mit Constantin Goschler); Das konservative Milieu. Vereinskultur und lokale Sammlungspolitik in ost- und westdeutschen Regionen (1900-1960), Göttingen 2002; Die Adenauer-CDU. Gründung, Aufstieg und Krise einer Erfolgspartei (1945-1969), Stuttgart/ München 2001.

Anke te Heesen ist seit April 2011 Professorin für Wissenschaftsgeschichte am Institut für Geschichtswissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin. Nach dem Studium der Kulturpädagogik promovierte sie an der Universität Oldenburg über eine Bildenzyklopädie des 18. Jahrhunderts. Sie arbeitete als wissenschaftliche Mitarbeiterin und Kuratorin am Forschungszentrum Europäische Aufklärung, dem Deutschen Hygiene-Museum Dresden und dem Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, Berlin. Sie war von 2006 bis 2008 als Gründungsdirektorin des Museums der Universität Tübingen tätig, bevor sie 2008 auf eine Professur für Empirische Kulturwissenschaft wechselte. Ihr gegenwärtiges Forschungsprojekt widmet sich der Ausstellungsgeschichte und der Entstehung des Kurators.

Rüdiger Hohls studierte Geschichte, Mathematik und Philosophie im Staatsexamen Lehramt Gymnasien 1984, war zwischen 1985 und 1992 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin in Forschungsprojekten zur neueren deutschen/europäischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Promotion 1991 über das Thema „Arbeit und Verdienst. Arbeitsmarkt und Einkommen im Deutschen Reich und in der Bundesrepublik Deutschland“ sowie zwischen 1992 und 1994 wissenschaftlicher Assistent. Seit Ende 1994 leitet er den Bereich Historische Fachinformatik am 'Institut für Geschichtswissenschaften' der Humboldt-Universität zu Berlin und ist Herausgeber verschiedener Portale der historischen Fachinformation, wie H-Soz-u-Kult (seit 1996), Clio-online (seit 2002), Themenportal Europäische Geschichte (seit 2006) und Docupedia-Zeitgeschichte (seit 2010).

Sebastian Ullrich studierte Geschichte, Philosophie und Politikwissenschaft in Berlin und Cambridge. Er promovierte 2008 an der Humboldt-Universität zu Berlin. Seitdem ist er Lektor für Zeitgeschichte und Politik im Verlag C.H.Beck in München. Sein Buch „Der Weimar-Komplex. Das Scheitern der ersten deutschen Demokratie und die politische Kultur der Bundesrepublik“ erschien 2009 im Wallstein-Verlag. Es wurde auf die SZ/NDR-Sachbuchbestenliste gewählt und mit dem „Hans-Rosenberg-Gedächtnispreis“ ausgezeichnet.

Kontakt

Prof. Dr. Frank Bösch
Zentrum für Zeithistorische Forschung
Am Neuen Markt 1
14467 Potsdam
E-Mail: boesch@zzf-pdm.de

Prof. Dr. Anke te Heesen
Humboldt-Universität zu Berlin
Institut für Geschichtswissenschaften
Sitz: Friedrichstraße 191-193
10099 Berlin
E-Mail:anke.te.heesen@hu-berlin.de

Dr. Rüdiger Hohls
Humboldt-Universität zu Berlin
Institut für Geschichtswissenschaften
Sitz: Friedrichstraße 191-193
10099 Berlin
E-mail: hohlsr@geschichte.hu-berlin.de
Web: http://www.clio-online.de/forscherinnen=79

Dr. Sebastian Ullrich
Verlag C.H.Beck
Lektorat Literatur – Sachbuch – Wissenschaft
Wilhelmstraße 9
80801 München
Tel. +49 (0) 89 38189-301
Fax +49 (0) 89 38189-699
E-Mail: sebastian.ullrich@beck.de