.hist2011 – Geschichte im digitalen Wandel

Manfred Thaller: Wie real ist die virtuelle Forschung?

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Abstract

Die Informationstechnologie begann als radikale Innovation, hat in den letzten Jahrzehnten diesen Ausnahmecharakter aber zusehends verloren und ist mittlerweile ein selbstverständlicher und unverzichtbarer Faktor des täglichen Lebens. Daher ist auch nicht mehr die Frage nach ihrem Einsatz in exzeptionellen Bereichen historischer Forschung wichtig, sondern die Wandlung des Forschungsprozesses als solchem, wenn er ubiquitären Zugang zur Informationstechnologie hat. Die Übertragung des naturwissenschaftlichen Paradigmas der Forschungsumgebung, die alle Stadien des Erkenntnisprozesses unterstützt, auf die historischen Fächer wirft grundsätzliche Fragen auf: Gibt es Möglichkeiten, die Technologie fachspezifisch in der Analyse historischer Probleme einzusetzen, oder profitieren Historiker/innen von der inhaltsagnostischen Technik einfach genau wie der Rest der Gesellschaft auch? Reichen die philologisch-linguistischen Werkzeuge zur Textanalyse für die historischen Fächer aus? Reichen Historiker/innen digitale Bibliotheken und Publikationsmöglichkeiten, während die Analysemodule Virtueller Forschungsumgebungen Anderen vorbehalten bleiben?

Ein Beispiel für ein aus den Bedürfnissen der historisch Interessierten heraus entstandenes Projekt ist „Monasterium“, das derzeit ca. 250.000 Urkunden aus etwa 70 bis 80 Archiven zehn europäischer Länder im Internet so bereitstellt, wie sie in der analogen Welt verfügbar waren: notfalls als digitale Bilder ohne Beschreibung, mit Findbüchern erschlossen oder als mit dem Text der Editionen verbundene Bilder. Diese Ausgangsinformationen können in einem interaktiven, zur Qualitätssicherung moderierten Redaktionssystem ergänzt werden.

Das DFG-geförderte Projekt „Virtuelles Deutsches Urkundennetzwerk“ versucht diesen Ansatz zu einer vollständigen Virtuellen Forschungsumgebung weiterzuentwickeln. Mehrere Archive stellen Urkunden für abgestimmte Pilotprojekte dreier Forschungseinrichtungen bereit. Die Architektur dieses erweiterten Modells orientiert sich an mehreren Stufen der historischen Quellenarbeit von der Identifikation graphischer Symbole hin zur sukzessiven Integration interpretativer Informationen. Diese Stufenfolge mit jeweils abgestimmten Werkzeugen wird durch Möglichkeiten der – auch technischen – „Publikation“ der Ergebnisse und der Einbindung in didaktische Pakete mit der weiteren Umwelt verbunden.

Sind die derzeitigen Virtuellen Forschungsumgebungen jedoch möglicherweise nur ein Übergangsstadium? Könnten Quellen zu einheitlichen digitalen Objekten werden, die von Apps der nächsten Generation weitergeleitet werden könnten, sodass die dedizierte „Umgebung“ der Forschung durch die Einbettung forschungsrelevanter Daten und Werkzeuge in einen allgemeinen Kommunikationsprozess abgelöst wird?

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Zur Person

Manfred Thaller promovierte in Neuerer Geschichte an der Universität Graz, mit anschließendem PostDoc in Empirischer Soziologie am Institut für Höhere Studien, Wien. Am Max-Planck-Institut für Geschichte in Göttingen entwickelte er danach ein dediziertes Datenbanksystem, Kleio, für die historische Forschung und untermauerte es mit Studien zu einer Historischen Fachinformatik methodisch-theoretisch. Anschließend wirkte er als Gründungsdirektor des „Humanities Information Technology”-Zentrums an der Universität Bergen, Norwegen. Seit 2000 hat er an der Universität zu Köln eine Professur für „Historisch-Kulturwissenschaftliche Informationsverarbeitung“ inne. Seit Mitte der 1990-Jahre war er stark in die Entwicklung Digitaler Bibliotheken involviert, was in weiterer Folge zu Themen der Langzeitarchivierung und der Virtuellen Forschungsumgebungen führte.

Kontakt

Prof. Dr. Manfred Thaller
Historisch-Kulturwissenschaftliche Informationsverarbeitung
Universität zu Köln
Albertus-Magnus-Platz
D 50923 Köln
Tel.: +49 (0)221 470 3022
Fax.: +49 (0)221 470 7737