Allgemeines

Sektion 1: Virtuelle Forschung und Geschichtswissenschaften 2.0

Sektion 2: Digitale Quellenkritik und Data Driven History

Sektion 3: Narrativität und Medialität

Sektion 4: Grenzverschiebungen zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit

Zahlreiche Projekte der Fachinformation und -kommunikation haben übergreifend nutzbare Internet- und EDV-gestützte Angebote und Dienste hervorgebracht, die in den Geschichtswissenschaften eine wichtige Rolle spielen. Viele dieser Projekte gehören heute zum Standardrepertoire, haben das Experimentalstadium verlassen und sich institutionalisiert. Im Zuge der Entwicklung digitaler Material- und Arbeitsumgebungen konnten vielfältige Erfahrungen in den weiteren Ausbau digitaler Infrastrukturen eingebracht werden. Andere Lösungen wiederum haben sich nicht als tragfähig erwiesen und sind deshalb wieder verschwunden. Derzeit steht ein breites Repertoire an Web-2.0-Angeboten im Fokus Internet- und EDV-gestützter Projekte – insbesondere die Erprobung neuer Arbeitsplattformen, um deren Potenziale für die weitere Entwicklung Internet-gestützter Forschung und Lehre wie auch Informations- und Kommunikationsstrukturen in den Geschichtswissenschaften auszuloten. Nachwuchswissenschaftler/innen greifen vermehrt auf das Web 2.0 rund um Facebook, Twitter, Wikipedia und Co. zurück und adaptieren deren mediale Informations- und Kommunikationsformen für Forschung und Lehre. Der für viele Jüngere normale Umgang mit sozialen Netzen, mobilen Geräten und dem Web 2.0 schlägt darüber auf das Forschen und Lehren in der Wissenschaft durch. Mit welchen Zielen, Auswirkungen und Perspektiven dies geschieht, ist noch offen und bietet Raum für Diskussionen.

Seit dem Aufkommen digitaler Medien und EDV-gestützter Arbeitstechniken sowie der technischen Entwicklung netzgestützter Arbeitsformen beschäftigen sich Wissenschaftler/innen aus den Geschichts-, Sozial-, Medien- und Kulturwissenschaften u.v.m.  mit den Intentionen, Auswirkungen und Perspektiven der digitalen Mediennutzung in Forschung und Lehre. Zahlreiche interdisziplinäre Projekte reflektieren auf der Basis klassischer und neuer methodischer Herangehensweisen den Umgang mit dem Internet. Dabei sind bereits eine Reihe von Veränderungen quantitativer und qualitativer Art beobachtet worden, wie das nachhaltig steigende Aufkommen elektronischer und gedruckter Publikationen oder die immer größer werdenden Verbundvorhaben zur Bereitstellung retrodigitalisierter Materialien. Andere Entwicklungen vollziehen sich eher im Kleinen und sind an der Erprobung neuer narrativer, vernetzter Strukturen über Erzählformen in Hypertexten und in multimedialen Umgebungen, oder über teils neue, teils wiederzubelebende EDV-gestützte Forschungsmethoden ablesbar.  Zugleich werden neue Repräsentationsformen medialer „Kulturen“ und „Diskurse“, neue Partizipationsmöglichkeiten von Öffentlichkeit und Wissenschaft in der Geschichtsdarstellung und -rezeption im Internet erprobt, etabliert oder überformt. Verbunden damit sind Verschiebungen althergebrachter Grenzen zwischen Fachwissenschaft und Öffentlichkeit. Schließlich erhält die Frage wieder Gewicht, inwiefern der oft beschworene Siegeszug des Internet tatsächlich als „Medienrevolution“ zu deuten oder vielmehr in seinen Dimensionen noch offen und in Teilen womöglich reversibel ist. Die Voraussetzungen, Elemente und Perspektiven einer „Digitalen Geschichtswissenschaft“ sind jedenfalls im Fluss.

 

Dieser Hintergrund vielfältiger Ansätze und Themen bildet den Rahmen, nach den vorangegangenen „.hist“-Tagungen des Projektverbundes Clio-online von 2003 und 2006 nun erneut die Entwicklung netzbasierter und Internet-gestützter Arbeitstechniken, Informations- und Kommunikationsangebote zu untersuchen und die Rolle digitaler Medien in Forschung und Lehre kritisch zu reflektieren. Stärker als in den ersten beiden „.hist“-Tagungen steht dabei der Wandel von Arbeitspraktiken und Methoden im Mittelpunkt. Zugleich soll aber auch die Werkschau in kleinerem Rahmen fortgeführt werden, um aktuellen Projektentwicklungen den notwendigen Präsentationsraum zu geben.

Anlass für die „.hist2011“-Tagung sind zugleich das 15-jährige Jubiläum von H-Soz-u-Kult und das gut einjährige Jubiläum von L.I.S.A. – dem Wissenschaftsportal der Gerda Henkel Stiftung. Beide Portale stellen einem weiten Nutzerkreis – vom Wissenschaftler bis zum interessierten Laien – Plattformen für den Austausch geisteswissenschaftlicher Inhalte zur Verfügung. Die Macher/innen dieser Projekte stellen ihre und natürlich weitere Projekte auch zur Diskussion über eine mögliche „Digitale Geschichtswissenschaft“ der Zukunft. Spannend erscheint es, eine Skizze zu erhalten, die frei assoziierend einen Blick auf die Geschichtswissenschaft in 15 Jahren wirft – einmal visionär, spekulativ und als Wunschgebilde formuliert; zum anderen nüchtern, realistisch und mit skeptischem Blick betrachtet.

Die folgenden Leitthemen und -fragen sollen Anwender/innen, Wissenschaftler/innen, Studierende und Projekte-„Macher/innen“ zu einem Austausch über Potenziale und Grenzen der heutigen wissenschaftlichen Arbeit, Information und Kommunikation in und mit dem Internet einladen.

 

Sektion 1: Virtuelle Forschung und Geschichtswissenschaften 2.0

Leitung: Rüdiger Hohls, Humboldt-Universität zu Berlin

Abstract:

Über wissenschaftliche Förderprogramme wird seit Jahren versucht, die latente Informatisierung des universitären Forschungs- und Lehrbetriebes zu beschleunigen und daraus einen proaktiven Prozess zu machen, der neben technischen und institutionellen auch inhaltliche, soziale und wissenschaftskulturelle Aspekte einschließt. Mit dem Begriff Virtuelle Forschungsumgebung wird eine disziplinäre oder auch disziplinenübergreifende Arbeitsumgebung bezeichnet, die es Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern ermöglicht, über räumliche, zeitliche, institutionelle Grenzen hinweg, gemeinsam (kollaborativ) komplexe Forschungsfragen zu bearbeiten. Ein wesentliches Kennzeichen ist die Integration fachspezifischer Ressourcen unterschiedlichster Provenienz und medialer Formate in die persönliche Arbeitsumgebung. In den Geschichtswissenschaften sollen Virtual Research Environments den gesamten wissenschaftlichen Arbeitsprozess von der Ideenskizze, über die Daten- und Quellensammlung, zur Auswertung und Forschung (in unserem Fach meist identisch mit dem „historischen Schreiben“) bis zur Publikation der Ergebnisse im Internet und der nachhaltigen Sicherung der Forschungsprimärdaten beinhalten. In der Sektion sollen die Voraussetzungen, Möglichkeiten und Implikationen für die Geschichtswissenschaften und ihre Nachbarfächer diskutiert werden.

 

Sektion 2: Digitale Quellenkritik und Data Driven History

Leitung: Peter Haber, Universität Basel

Abstract:

Die Geschichtswissenschaft beschäftigt sich seit rund 15 Jahren mit dem Phänomen Internet. Dabei standen bisher vor allem Suchmöglichkeiten, Präsentationsweisen und Möglichkeiten der Zusammenarbeit im Vordergrund. Neuerdings gewinnt eine weitere Frage an Bedeutung: die Frage nach der Notwendigkeit neuer historischen Methoden im Kontext digitaler Arbeitsumgebungen. Die Palette der Themen ist weit und beginnt mit der Frage, ob die Geschichtswissenschaft zukünftig eine eigenständige «Digitale Quellenkritik» entwickeln muss oder ob die Grundsätze der klassischen Quellenkritik ausreichen, um für die Herausforderungen retrodigitalisierter und genuin digitaler historischer Quellen gewappnet zu sein. Zu fragen wird auch sein, ob eine allfällige «Digitale Quellenkritik» als eigenständige historische Hilfswissenschaft zu etablieren sei, oder ob sie sich in das bisherige Set historischer Hilfswissenschaften integrieren lässt. Ein weiterer Themenkomplex umfasst den Umgang mit grossen historischen Datenmengen («Data Driven History»). Die Frage knüpft an ältere Auseinandersetzungen um eine statistisch orientierte «Historische Sozialwissenschaft» an, hat aber aufgrund veränderter technischer Rahmenbedingungen und rezenter methodischen Debatten völlig andere Dimensionen.

 

Sektion 3: Narrativität und Medialität

Leitung: Jan-Holger Kirsch, Zentrum für Zeithistorische Forschung, Potsdam

Abstract:

Das historische Erzählen und die methodische Reflexion dieses Erzählens gehören zu den Fundamenten der Geschichtswissenschaft. (Das war lange strittig, darf heute aber als Konsens gelten.) Die Formen des Erzählens hängen eng zusammen mit den jeweiligen Aufschreibesystemen, Gestaltungskonventionen und Medientechniken. So ist zu vermuten, daß gerade die erweiterten Möglichkeiten der digitalen Medien auch neue Narrative hervorbringen, etwa durch die Verknüpfung von Texten, Bildern, Tönen und Filmen. Welche Narrative dies genau sein mögen, soll in der Sektion untersucht werden – anhand von Beispielen und in theoretischer Absicht, aus geschichts- und literaturwissenschaftlichen Perspektiven. Zu fragen wäre unter anderem, von welchen außerwissenschaftlichen Erzählformen die Geschichtswissenschaft eventuell Anregungen beziehen kann. Zu diskutieren wäre auch, ob es neue Narrative gibt, die für einzelne Subdisziplinen der Geschichtswissenschaft spezifisch sind, etwa für die Frühneuzeit-Forschung oder die Zeitgeschichte.

 

Sektion 4: Grenzverschiebungen zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit

Leitung: Georgios Chatzoudis, Gerda-Henkel-Stiftung / Thomas Meyer, Humboldt-Universität zu Berlin

Abstract:

Seit der Verbreitung und allgemeinen Nutzung  des Internets sind für die Geschichtswissenschaften neue Möglichkeiten der Erschließung, Aneignung und Vermittlung von Geschichte entstanden. Mit dem Internet als Träger neuer Rechercheinstrumente, moderner Kommunikationsformen und innovativer Darstellungstechniken einerseits und als öffentlichem Informations- und Interaktionsmedium seit dem Web2.0 andererseits bieten sich der Geschichtswissenschaft neue multidimediale und hypertextuelle Vermittlungsmöglichkeiten. Parallel dazu haben sich nichtwissenschaftliche Medien das Internet auf eine eigene Weise zunutze gemacht: populäre Geschichtssendungen und -magazine, daran anknüpfend ergänzende Materialien im Internet, Angebote dezidierter Materialsammlungen oder Nachschlagewerke von „Laien“ etc. Zeitzeugenarchive schreiben und präsentieren Geschichte in der Öffentlichkeit stärker interaktiv und kollaborativ. Zugleich nutzen Laienhistoriker, Geschichtsvereine etc. das Netz immer mehr für die Darstellung „ihrer“ Geschichte. Wissenschaftliche Projekte wiederum agieren stärker in die Öffentlichkeit hinein, durch neuartige mediale und inhaltliche Angebote. Als Folge dieser neuen medialen Präsenzen wurde seitens der Geschichtswissenschaft bereits ein Wandel der öffentlichen Erinnerungskultur im Netz konstatiert. Zugleich bleibt aber zu hinterfragen, ob sich weitergehende Grenzverschiebungen zwischen Fachwissenschaft und Öffentlichkeit mit Blick auf Erschließung und Vermittlung von Geschichte im Netz sowie die Teilhabe der jeweiligen Seite andeuten. Welche Folgen hat dies für die Vermittlung und Rezeption von Geschichte im Fach und in der Öffentlichkeit?