.hist2011 – Geschichte im digitalen Wandel

Rüdiger Hohls: Eröffnungsansprache

Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Gleich mehrere Geburtstage gaben dazu Anlass, zu dieser Tagung einzuladen. 1996 wurde H-Soz-u-Kult gegründet, 2001 haben wir den Projektverbund Clio-online ins Leben gerufen und vor einem Jahr ging L.I.S.A. - Das Wissenschaftsportal der Gerda Henkel Stiftung, online. Insbesondere mit H-Soz-u-Kult feiern wir also das Überleben eines Sauriers aus der Kreidezeit des World Wide Web, wie es kürzlich spöttisch in einem FAZ-Artikel über uns hieß. Gestatten sie es mir deshalb, ein paar Schlaglichter auf die Anfänge unserer Projekte zu werfen.

Fast auf den Tag genau vor 15 Jahren haben wir im Rahmen des Münchner Historikertages am frühen Nachmittag des 18. September 1996 in einem großen Hörsaal im Hauptgebäude der LMU einer übersichtlichen Zuhörerschar von etwa 50 oder 60 Personen das Projekt einer deutschsprachigen Mailingliste namens H-Soz-u-Kult, als Ableger des amerikanischen H-Net vorgestellt. Das Akronym H-Soz-u-Kult mussten wir damals wie heute erklären: Es steht für „Humanities. Sozial- und Kulturgeschichte“. Es folgte einfach den Vorgaben des H-Net, jede Liste trug und trägt bis heute vorne den Buchstaben H für Humanities als Zeichen der Zugehörigkeit zum Humanities-Network.

Auf dem Podium des Münchner Hörsaals saßen damals alle Mitinitiatoren des Projektes: Karsten Borgmann, Ralf Wolz, Peter Burger, Konrad Jarausch und ich. Die Idee zu dem Vorhaben hatten wir schon im Frühjahr 1996 diskutiert. Den ganzen folgenden Sommer haben wir dann dafür gebraucht, das Projekt mit dem Board und vor allem mit dem damaligen Präsidenten des H-Net, Richard Jensen, abzustimmen, um letztlich das Okay zu erhalten. H-Soz-u-Kult war eine der ersten außeramerikanischen Ausgründungen des H-Net, weshalb die Beiträge dann auch auf Deutsch und nicht primär auf Englisch laufen sollten. Was natürlich in gewisser Weise einen Kontrollverlust für die amerikanischen Kollegen bedeutete. Insbesondere sollten wir darlegen, warum wir der Auffassung waren, dass es überhaupt einen Bedarf für ein solches Forum geben würde, denn schließlich existierte seit Ende 1994 schon sehr erfolgreich H-German mit damals etwa 600 Teilnehmern. Für Historikerinnen und Historiker, die sich für die Geschichte des deutschsprachigen Raums interessieren würden, existiere also mit H-German also schon eine Anlaufstelle. Dank der kulturellen Übersetzungsleistung von Konrad Jarausch haben die amerikanischen H-Net Kollegen das Experiment am Ende mit uns gewagt.

Nun, ich denke, in den Folgejahren haben wir auf die nachvollziehbaren Bedenken der amerikanischen Kollegen eine durchaus erfolgreiche Antwort gegeben. Schließlich ist H-Soz-u-Kult seit vielen Jahren, gemessen an der Zahl der Abonnenten und des Beitragsaufkommens, das mit Abstand größte Forum des H-Net-Verbundes. Seit 2003 ist H-Soz-u-Kult auch kein „normaler“ Ableger des H-Net mehr, sondern arbeitet seither mit dem H-Net auf Basis einer Kooperationspartnerschaft – quasi auf Augenhöhe – zusammen.

Rückblickend stellt sich natürlich die Frage, warum wir 1996 gar nicht daran gedacht haben, die Idee des H-Net einfach zu adaptieren und mit Unterstützung eines hiesigen Infrastrukturpartners umzusetzen, etwa dem damaligen Rechenzentrum der Humboldt-Universität oder einer vergleichbaren Einrichtung. Der erste und wichtigste Grund lag sicher bei uns Initiatoren: Wir starteten als no-budget-Projekt und die amerikanischen Kollegen boten ihre technische Infrastruktur und Dienste kostenfrei für uns an – das H-Net partizipierte damals vom Förderprogramm der US-Regierung zum Aufbau der Web-Infrastruktur, der sogenannten Al Gore Initiative. Und wir nutzen die technische Infrastruktur in Teilen bis heute, wofür wir dem H-Net großen Dank und Anerkennung schulden. Zweitens orientierte sich das Board des H-Net damals weniger an Hierarchien als am Engagement von Initiatoren. So mussten wir keine Unterstützungserklärung eines Institutsdirektors, Dekans oder Uni-Präsidenten oder dergleichen vorlegen. Drittens waren die damaligen Rechenzentren noch vergleichsweise eng auf die Natur- und Wirtschaftswissenschaften ausgerichtet. Noch ging es vornehmlich um die Bereitstellung von Rechenpower für molekulare Simulationen in der Chemie oder um physikalische oder meteorologische Modellrechnungen. Der kulturelle Gap zwischen den Technikern und Informatikern der Rechenzentren und uns Geistes- und Kulturwissenschaftlern war noch zu groß. Zudem bestand die Kernidee von H-Soz-u-Kult eben nicht darin, eine wirklich herausfordernde technische Lösung zu realisieren, sondern es ging immer auch um ein soziales und kulturelles Experiment, weil als unzureichend empfundene Strukturen der historischen Fachinformation mittels neuer technischer Möglichkeiten effizient verändert werden sollten. Viele von Ihnen werden wissen, dass das Verhältnis von Fachinformatik und Fachinformation bis heute nicht ganz unkompliziert ist. Zudem hat H-Soz-u-Kult seinen Projektcharakter in Teilen bis heute nicht verloren, und dies nicht nur wegen seiner latenten Unterfinanzierung und den daraus resultierenden Problemen.

Natürlich ist H-Soz-u-Kult über die Jahre professioneller geworden, aus einem randständigen Projekt wurde eine hierzulande scheinbar unverzichtbare Säule der historischen Fachinformation. Dies spiegelt sich auch in den beruflichen Biographien vieler Kolleginnen und Kollegen, die in der immer größer werdenden Fachredaktion einige Jahre mitgewirkt haben oder nach wie vor mitwirken. Eine wichtige Wegmarke für diesen Prozess war die Gründung des Verbundprojektes Clio-online im Jahr 2001 und die sich für mehrere Jahre anschließende finanzielle Förderung durch die DFG für verschiedene Vorhaben. Der Projektverbund Clio-online wurde schließlich 2007 von den beteiligten Einrichtungen und von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus den Redaktionen in den Träger- und Förderverein Clio-online – Historisches Fachinformationssystem e.V. überführt. Dieser gemeinnützige wissenschaftliche Verein stellt seither das organisatorische und rechtliche Dach für einen ganzen Strauß historischer Fachinformationsdienste und Portale dar. Dazu gehören:

• natürlich das Fachportal Clio-online selbst, inklusive der dort aufgehängten Rezensionssuchmaschine „Historische Rezensionen online“

• und, wie schon erwähnt, H-Soz-u-Kult, der nach wie vor meistgenutzte Dienst von allen Angeboten;

• von den Kolleginnen und Kollegen des Potsdamer Zentrums für Zeithistorische Forschung, mit denen wir seit vielen Jahren eng zusammenarbeiten, werden die Portale Zeitgeschichte-online und Docupedia-Zeitgeschichte inhaltlich wie redaktionell verantwortet;

• dagegen stützen sich der Fachinformationsdienst geschichte.transnational und das Themenportal Europäische Geschichte stärker auf die Mitwirkung von Kolleginnen und Kollegen der Universität Leipzig bzw. des Geisteswissenschaftlichen Zentrums Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas an der Universität Leipzig.

Ich möchte diese Gelegenheit auch dazu nutzen, den vielen Kolleginnen und Kollegen ganz herzlich zu danken, die sich in den zurückliegenden Jahren als Mitarbeiter, Projektpartner, Fachredakteur, Herausgeber, Beirat oder auch als Gutachter engagiert eingebracht oder aktiv mitgewirkt haben. Viele unserer Projekte sind kollaborativ konzipiert, entwickelt und umgesetzt worden; nicht wenige Kolleginnen und Kollegen bringen sich seit Jahren engagiert und ehrenamtlich ein. Dies ist beileibe keine Selbstverständlichkeit.

Unsere jetzige .hist-Tagung ist die dritte große Konferenz, die Clio-online veranstaltet. Die erste Tagung 2003 stand unter dem Motto „Geschichte und Neue Medien in Forschung, Archiven, Bibliotheken und Museen“ und war ein großer Erfolg – wegen des Ertrags der Vorträge und Diskussionen, aber auch des großen Medienechos wegen. 2006 haben wir zu einer weiteren .hist-Tagung unter dem Motto „Geschichte im Netz: Praxis, Chancen, Visionen“ eingeladen und schon im Vorfeld wurden wir von der Resonanz des Call for Papers überrascht, woraus dann eine Veranstaltung mit mehr als 80 Referentinnen und Referenten und etwa 450 Teilnehmern erwuchs. Die Ergebnisse beider Konferenzen, jeweils zwei umfängliche Tagungsbände, können Sie im Internet einsehen.[i]

Als wir uns vor Monaten entschlossen, anlässlich des bevorstehenden Jahrestages von H-Soz-u-Kult wiederum eine .hist-Tagung zu veranstalten, war allerdings klar, dass wir angesichts unserer personellen und sächlichen Ressourcen nicht wieder eine „Monstertagung“ wie 2006 würden stemmen können. Deshalb haben wir den thematischen Fokus von vornherein enger gefasst und auf die Frage zugeschnitten, welchen Wandlungen unser Fach in Forschung, Lehre, Vermittlung und bezüglich anderer Aspekte durch die Digitalisierung von Quellen und Materialien sowie durch die Virtualisierung von Arbeitszusammenhängen schon erfahren hat oder noch erfahren wird. Deshalb haben wir die Tagung auch unter das Motto „Geschichte im digitalen Wandel“ gestellt.

Möglich wurde die Tagung allerding nur durch die finanzielle Förderung seitens der Gerda Henkel Stiftung, wofür wir sehr dankbar sind. Jedoch ist L.I.S.A. - Das Wissenschaftsportal der Gerda Henkel Stiftung nicht nur im Tagungsprogramm repräsentiert durch Herr Chatzoudis, nicht Mitveranstalter wegen der Förderung, sondern weil wir uns auf eine längerfristige Zusammenarbeit verständigt haben. Ich möchte es mal ironisch so ausdrücken: Wir Saurier des Web 1.0-Zeitalters hoffen von den „Web 2.0-Avataren“, die bei L.I.S.A. für den Wissenschaftsbereich ersonnen und erprobt werden, durch Anschauung und Teilhabe ganz uneigennützig partizipieren zu können.

Nun wünsche ich allen Anwesenden zwei anregende und diskussionsfreudige Tage.

[i] .hist2003 – Geschichte und Neue Medien in Forschung, Archiven, Bibliotheken und Museen: <http://edoc.hu-berlin.de/histfor/7_I/PDF/HistFor_7-2005-I.pdf>; .hist2006 – Geschichte im Netz: Praxis, Chancen, Visionen: <http://edoc.hu-berlin.de/histfor/10_I/PDF/HistFor_2007-10-I.pdf>.

Zur Person

Studium der Fächer Geschichte, Mathematik und Philosophie, Staatsexamen Lehramt Gymnasien 1984, zwischen 1985 und 1992 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin in Forschungsprojekten zur neueren deutschen/europäischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Promotion 1991 über das Thema „Arbeit und Verdienst. Arbeitsmarkt und Einkommen im Deutschen Reich und in der Bundesrepublik Deutschland“, zwischen 1992 und 1994 wissenschaftlicher Assistent und seit Ende 1994 Leiter des Bereichs Historische Fachinformatik am 'Institut für Geschichtswissenschaften' der Humboldt-Universität zu Berlin. Herausgeber verschiedener Portale der historischen Fachinformation, wie H-Soz-u-Kult (seit 1996), Clio-online (seit 2002), Themenportal Europäische Geschichte (seit 2006) und Docupedia-Zeitgeschichte (seit 2010).

Kontakt

Dr. Rüdiger Hohls
Humboldt-Universität zu Berlin
Institut für Geschichtswissenschaften
Sitz: Friedrichstraße 191-193
10099 Berlin
E-mail: hohlsr@geschichte.hu-berlin.de
Web: http://www.clio-online.de/forscherinnen=79