Geschichtswissenschaft und digitale Medien in den USA |
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Digital
History hat in den USA in den letzten Jahren eine zunehmend größere
Bedeutung für die Geschichtswissenschaft erlangt. Davon zeugt nicht nur
das gleichnamige, 2006 erschienene Buch von Daniel J. Cohen und Roy
Rosenzweig[1],
eine der bislang besten Einführungen in das Thema, sondern auch die
Tatsache, dass die American Historical Association (AHA) sich in den
letzten Jahren regelmäßig mit der Frage auseinandergesetzt hat, welche
Bedeutung die neuen digitalen Medien für das Fach haben (werden). Im
September 2009 wurde sogar ein Technology Advisory Committee
eingerichtet, um ein Konzept für die Entwicklung der Website der AHA
und ihrer digitalen Publikationen für die nächsten Jahre zu erarbeiten.[2] Perspectives on History, das Newsmagazine der AHA, hat diese Diskussionen zumeist begleitet und dokumentiert. Die knappen Essays der Intersections: History and New Media
in der Ausgabe vom Mai 2009 geben einen kursorischen Einblick in den
aktuellen Stand der Diskussion. Auch wenn sich die Digital History noch
nicht so weit kanonisiert hat, dass es eine feste, allgemein anerkannte
Definition gibt, so besteht doch mittlerweile ein gewisser Konsens
darüber, dass sie folgende Bereiche umfasst[3]:
- Die Digitalisierung von Zeugnissen der Vergangenheit wie der geschichtswissenschaftlichen Publikationen.
- Die Zurverfügungstellung und langfristige Archivierung genuin digitaler Quellen.
-
Die Nutzung und Analyse digitalisierter und genuin digitaler
Quellenmaterialien unter Einschluss der dadurch neu entstandenen
methodischen Möglichkeiten sowie die theoretische Reflexion auf neue
epistemologische Optionen, welche digitalisierte Quellen ermöglichen.
-
Die Publikation von Forschungsergebnissen und die Darstellung
historischer Themen in digitaler Form unter Nutzung der hypertextuellen
und multimedialen Optionen der neuen Medien.
Interessant und
möglicherweise innovativ wird digitale Geschichtswissenschaft natürlich
erst dann, wenn sie das digitale Medium für neue Fragestellungen, neue
Formen der Quellenanalyse und der Präsentation ihrer Ergebnisse nutzt.
Dafür gibt es freilich auch in den USA nur erste Ansätze und Beispiele
mit Websites wie Valley of the Shadows oder den verschiedenen Projekten des Center for History and New Media,
auf die noch näher eingegangen wird. Weit fortgeschritten ist freilich
in vielen Bereichen bereits die Digitalisierung von Quellen und
gedruckten Fachpublikationen.
Den ersten Schub erhielt die
Digital History in den USA daher zunächst weniger durch die
Fachhistoriker selbst als durch große Digitalisierungsprojekte von
Bibliotheken, Verlagen und Archiven. Ein Vorreiter war die Library of
Congress mit ihrem Projekt American Memory,
dazu kamen rasch weitere Forschungsbibliotheken mit eigenen
Digitalisierungsprojekten. Während die Bibliotheken meist ausgewählte
Bestände, alte Drucke, handschriftliche Materialien, aber auch frühe
Ton- und Filmdokumente digitalisierten und zu thematischen Sammlungen
zusammenfügten, nutzte der Verlag Readex, der seit den 1950er-Jahren in
Zusammenarbeit mit der American Antiquarian Society systematisch die
frühneuzeitlichen amerikanischen Drucke verfilmt hatte und als
Mikroformpublikation vertrieb, die digitale Option, um mit Early American Imprints die amerikanische Buchproduktion von 1639 bis 1819, insgesamt über 80.000 Titel, online anzubieten. Parallel dazu wurde mit JSTOR
ein not-for-profit-Unternehmen aufgebaut, das für die Geistes- und
Gesellschaftswissenschaften die wichtigsten Fachzeitschriften
vollständig digitalisierte.[4]
Robert
Darnton, der sich als Historiker intensiv mit der Mediengeschichte des
18. Jahrhunderts beschäftigt hatte und wohl aufgrund dieser Erfahrung
auch mit Neugier und Interesse die aktuellen Medienumbrüche beobachtete
und reflektierte, begann 1999, in seiner Zeit als Präsident der AHA,
das Thema verstärkt in den Fokus der amerikanischen
Geschichtswissenschaft zu rücken.[5] Mit dem Gutenberg-e Program
initiierte er in Kooperation mit der Columbia University Press ein
Projekt, bei dem herausragende Dissertationen in neuer digitaler Form
publiziert wurden. Parallel dazu begann der American Learned Society
Council mit dem History E-Book Project, das mittlerweile zum ACLS Humanities E-Book
ausgeweitet wurde. Beide Projekte brachten freilich keinen Durchbruch
zum digitalen Publizieren in der amerikanischen Geschichtswissenschaft,
die Zunft blieb auch in Amerika weiterhin der klassischen gedruckten
„großen“ Monographie verpflichtet; doch die AHA gab zunehmend Anstöße
sich mit dem Thema digitale Medien auseinanderzusetzen. Die Website der AHA
entwickelte sich auch zu einem wichtigen Informationsportal für die
amerikanische Geschichtswissenschaft. In einem Blog wird regelmäßig
über Neuigkeiten informiert; Perspectives online gibt in kurzen Beiträgen Informationen zu aktuellen Entwicklungen; mit dem Projekt History Cooperative, der digitalen Ausgabe zentraler Zeitschriften des Faches, wie der American Historical Review, oder dem Directory of History Departments and Organizations in the United States and Canada
und anderen Angeboten wurde der Fachverband sogar zu einem Provider von
Fachinformationen. Daran hatte nicht zuletzt auch Roy Rosenzweig
(1950-2007) als Vizepräsident der AHA seinen Anteil. Seit seinem frühen
Tod vergibt die AHA in Kooperation mit dem Center for History and New
Media auch jährlich den „Roy Rosenzweig Prize in History and New Media“
„… for an innovative and freely available new media project that
reflects thoughtful, critical, and rigorous engagement with technology
and the practice of history”[6].
Das 1994 von Roy Rosenzweig gegründete Center for History and New Media
ist derzeit auch die im Bereich Digital History profilierteste
Einrichtung in den USA und mit ca. 50 Mitarbeitern auch eine der
größten ihrer Art. Mit Zotero
hat sie ein international weit verbreitetes, frei verfügbares
Softwareprodukt zur Verwaltung von Literaturzitaten und recherchierten
Websites entwickelt. Neben der Erstellung von Software für die
Geisteswissenschaften liegt ein deutlicher Schwerpunkt der Arbeit des
CHNM auf der Produktion thematisch fokussierter Websites, die
beispielhaft zeigen sollen, über welche Möglichkeiten der Erschließung,
Präsentation und Auswertung digitalisierter Quellen Historiker
mittlerweile verfügen können. Auch wenn die Mehrzahl dieser
„Publikationen“ sich mit Themen der amerikanischen Geschichte
beschäftigt, so hat das CHNM mit 1989. The World in the Making
doch auch eine international beachtete Website zur aktuellen
Zeitgeschichte mit Schwerpunkt auf Osteuropa aufgelegt. Vor allem zur
Unterstützung der akademischen Lehre gibt es noch eine Reihe weiterer
Produkte, wie den History Syllabus Finder oder History Matters, einen Katalog geschichtswissenschaftlich relevanter Websites.
Das 1998 von Edward L. Ayers und William G. Thomas III. gegründete Virginia Center for Digital History
konzentriert sich im Unterschied zum CHNM weitgehend auf die
Publikation fachlicher Websites. Das mag auch damit zusammenhängen,
dass einer der Gründer, Edward L. Ayers, in den Jahren zuvor bereits
begonnen hatte, eine der frühesten und zugleich immer noch
interessantesten, thematisch spezialisierten Websites zu einem
zentralen Thema amerikanischer Geschichte, dem Sezessionskrieg, zu
publizieren: Valley of the Shadows.
Hier versuchte er prototypisch zu zeigen, welche Optionen das neue
Medium für die Digitalisierung, Präsentation und Auswertung
unterschiedlichster Quellenformen bietet. Mittlerweile sind unter dem
Dach des Virginia Center eine Reihe weitere, nicht mehr ganz so
umfangreiche und etwas weniger ambitionierte
geschichtswissenschaftliche Websites entstanden, die aber immer noch
einen guten Eindruck davon geben, wie in den USA solche thematischen
Sites vor allem auch für die Lehre erstellt und eingesetzt werden.
Auch
wenn die amerikanische Geschichtswissenschaft in ihrer Mehrheit
traditionellen Publikationsformen verhaftet ist und der klassische
Publikationsweg eines akademischen Historikers immer noch darin
besteht, seine Doktorarbeit in einer überarbeiteten Version als erstes
Buch bei einer University Press zu publizieren, so kann man insgesamt
doch zugleich eine Aufgeschlossenheit gegenüber digitalen Medienformen
feststellen, die in einer Fülle fachlich fokussierter Websites ihren
Ausdruck finden, auch wenn diese im wesentlichen immer noch der
digitalen Aufbereitung von Quellenmaterial und dem Einsatz in der Lehre
und weniger der Publikation und Diskussion von Forschungsergebnissen
verpflichtet sind. Da es sehr viele Digitalisierungsprojekte bei
Forschungsbibliotheken, den State Archives wie den regionalen
Historical Societies gibt, können Historiker mittlerweile auch auf eine
ansehnliche Zahl digitalisierter Quellen für solche Zwecke
zurückgreifen. Da auch die wichtigsten Zeitschriften des Faches und
zunehmend auch Monographien in digitalen Parallelausgaben zur Verfügung
stehen, von bibliographischen Datenbanken und Katalogen ganz zu
schweigen, spielen digitalisierte – nicht genuin digitale – Medien
nicht nur für die Lehre, sondern auch die Forschungsarbeit eine
wichtige Rolle. Auch ein Historiker, der seine eigenen Studien zur
amerikanischen Geschichte noch traditionell publiziert, wird bei seinen
Forschungen bereits in nicht unerheblichem Umfang auf digitalisierte
Medien zurückgreifen können. In dieser Hinsicht ist die amerikanische
Geschichtswissenschaft also bereits sehr umfassend einer Digital
History verpflichtet. Das Ausprobieren neuer methodischer Optionen,
welche digitale Quellen zu versprechen scheinen, befindet sich indes
erst in den Anfängen.[7]
Der Autor: Dr. Wilfried Enderle ist Fachreferent für Geschichte an der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen und betreut dort unter anderem das Sondersammelgebiet für die Geschichte des angloamerikanischen Kulturraums.
Zitation: Wilfried Enderle, Guide USA. In: Clio-online, 09.10.2009, <http://www.clio-online.de/guides/usa/enderle2009>.
[1]
Daniel J. Cohen / Roy Rosenzweig: Digital History. A Guide to
Gathering, Preserving, and Presenting the Past on the Web, Philadelphia
2006.
[2]
AHA Establishes Technology Advisory Committee
http://blog.historians.org/news/877/aha-establishes-technology-advisory-committee.
[3]
Vgl. dazu vor allem Douglas Seefeldt / William G. Thomas: What is
Digital History? A Look at Some Exemplar Projects. In: Perspectives May
2009
http://www.historians.org/perspectives/issues/2009/0905/0905for8.cfm.
[4] Vgl. Roger C. Schonfeld: JSTOR. A History, Princeton 2003.
[5]
Vgl. Robert Darnton: An Early Information Society. In: American
Historical Review, Bd. 105, 2000
http://www.historycooperative.org/journals/ahr/105.1/ah000001.html;
Ders.: The New Age of the Book. In: The New York Review of Books, Bd.
46 (5), March 18, 1999 http://www.nybooks.com/articles/546;
Ders.: What Is the Gutenberg-e Program? May 7, 2007
http://www.historians.org/PRIZES/gutenberg/rdarnton2.cfm.
[6]
http://blog.historians.org/news/426/american-historical-association-and-the-center-for-history-and-new-media-at-george-mason-university-announce-new-prize.
[7]
Dies indizieren Projekte wie Bamboo http://projectbamboo.org,
das seit 2006 jährlich stattfindende Chicago Colloquium on Digital
Humanities http://dhcs2009.iit.edu/ oder auch die Digital
Humanities at Yale http://digitalhumanities.yale.edu.